Die Erinnerungen von Erna Martens erschienen in der Festschrift zur 700-Jahr-Feier der Gemeinde Reinbek 1938. 1861 geboren, besuchte Martens die Privatschule von Herrn Dr. Kröger in Reinbek und wurde im Anschluss selbst Lehrerin. Den Aufsatz schrieb sie bereits als „Studienrätin i. R.“, im Ruhestand. Mehrere Teile ihres Artikels, die sowohl über das Schulwesen Reinbeks im 19. Jahrhundert informieren als auch persönliche Einsichten der Autorin zeigen, wollen wir hier vorstellen:
Ach, du mein liebes, altes Reinbek! Siebenhundert Jahre alt bist du? Bei aller Bewunderung und Liebe zu dir, das hätte ich doch nicht gedacht! Genau siebzig Jahre freilich kenne ich dich schon! Denn als ich 1868 um Ostern sieben Jahre alt wurde, da betrat ich den mitten in deinen Wäldern und Wiesen gelegenen ersten „Fechtboden“ meines Lebens, deine Schule, und was ich mir da „erpauken“ durfte in meinen neun Lernjahren, das hat mir einen festen Halt gegeben für die Kämpfe auf den weiteren Fechtböden des Berufs- und Nichtberufsdaseins in meinen langen siebenundsiebzig Lebensjahren.
Wie sollte ich da nicht deiner gedenken in den Tagen, da man dich feiert. Ich tue es dankbaren Herzens, du liebes, altes Reinbek.
1867 zog mein Vater mit seiner Familie auf Carolinenhof ein; wir kamen aus dem östlichen Holstein. Reinbek hatte eine private Schule für Knaben und Mädchen. Herr Dr. Kröger und Frau Luise, geb. Behn, waren die Besitzer. Mit der Schule verbanden sie ein Pensionat für Ausländer. Meine Brüder wurden dort eingeschult. Als ich meine Mutter fragte, ob ich Ostern nicht auch in die Schule käme – ich war damals gerade sechs Jahre alt -, sagte sie zu meiner größten Enttäuschung: noch nicht, ich müßte noch ein Jahr lang warten; denn ich müßte meine zweijährige Schwester hüten. Ohne mich könnten sie im Hause nicht fertig werden. So mußte also das elfte Kind der Eltern des zwölften Kindes Hüterin werden. Ich konnte das schon damals verstehen und wartete. Von allgemeiner Schulpflicht ahnte mir natürlich noch nichts, aber mit sechs Jahren „helfen“ – das kannte ich schon. Würde man nicht auch heute einer so kinderreichen Familie gewisse Freiheiten mit Recht zugestehen? Man denke: dreimal vier!
Die „großen Brüder“ blieben nicht sehr lange im Hause. Warum nicht? Eltern pflegten damals nicht, ihren Kindern zu ihren Verfügungen Erklärungen zu geben oder gar Rechenschaft vor ihnen abzulegen. “Du wirst in Zukunft“ – das schien zu genügen. Ich aber weiß, daß wir Mädchen in der Schule immer und überall die besten Gelegenheiten hatten: die Disziplin war etwas so Selbstverständliches, daß von ihr nie die Rede war.
[…]
Ich habe nach dem Verlassen der Reinbeker Anstalt auf meinem Wege durch einen kleinen Teil der Hamburger Schulen die erfreulichsten Erfahrungen über meine Schulzeit eingeheimst. Es muß mit großer Sorgfalt sehr viel Stoff an uns herangebracht worden sein, der nicht immer Schulstoff war. Das bemerkten die Lehrer im Seminar [zur Lehrerausbildung], von denen ich mehrmals gefragt wurde, welche Schule ich eigentlich besucht hätte, sie schien aus dem Rahmen der Hamburger Schulen herauszufallen. Ich bekannte mich dann mit einem gewissen Stolz zu Reinbek. Aber ich selbst bemerkte, als die Lust an Methodik in mir erwachte, daß man in Reinbek – wie wohl selten an einem so kleinen Ort und einer so kleinen Schule – durchaus auf den Spuren des Modernen gewandelt war und das „gute Neue“ auch angewandt hatte.
Erna Martens: Erinnerungen an die Schulzeit. In: Festschrift zur 700-Jahrfeier der Gemeinde Reinbek. 1238-1938. Reinbek 1938, S. 162-169.